Mongibello — Berg der Berge
Sizilien ist eine Welt für sich, das merkten wir bereits bei der Ankunft. Selbst für italienische Verhältnisse herrscht hier ein schier unüberschaubares und vor allem undurchdringliches Verkehrsgewirr. Chaotischer sind die Zustände auf den Straßen in TV-Berichten vom mittleren Osten auch nicht. Kaum noch ist auszumachen woher die unzäligen Hupen schallen, wo die Kreuzung beginnt und wo der Bürgersteig endet. Rote Ampel? Na und. Verkehrspolizei - Fehlanzeige.
Trotzdem schafften wir es ohne Schrammen und Blessuren vom Fährhafen durch Messina auf die Autobahn. Noch auf der Fähre war der Himmel bedeckt und durch den Golf wehte ein recht frischer Wind. Daher zogen wir zuvor die Innenfutter der Motorradjacken an. In Messina jedoch herrschte Backofenähnliche Temperaturen und so fuhren wir gleich auf die erste Autobahnraststätte um die Futter wieder im Tankrucksack zu verstauen. Fünf Minuten nach der Weiterfahrt begann es in Strömen zu gießen aus dicken Wolken, deren Herkunft uns unerklärlich erschien. Da die Innenfutter auch die wasserdichte Membran beinhalteten, waren wir in kürzestet Zeit wieder naß, aber diesmal war es nicht vom Schwitzen.
Kurz bevor wir unseren Zielort erreichten, wechselte das Wetter, nicht zum besseren allerdings. Es hagelte. Wir retteten uns in die nächste Tankstelle, die glücklicherweise auch noch ein Café war. Nachdem die Motorräder versorgt waren (alte Cowboy-Tradition, die Pferde trinken zuerst), erklärte uns der nette Tankwart bei dem einen oder anderen Espresso, daß hier in der Nähe des Ätna, das Wetter gut vorhersehbar wäre und er sich nicht erklären könnte, warum wir ausgerechnet zur Gewitter- und Wolkenbruchzeit mit dem Motorrad unterwegs wären. Ob wir denn nicht gemerkt hätten, daß keine Leute mehr auf den Straßen wären? Nun, jetzt da er es erwähnte, fiel uns schon auf, daß die Straßen tatsächlich fast menschenleer, sein Café dafür aber überfüllt war.
Der Tankwart gab uns noch den Rat, uns einen kleinen Campingplatz im Ort zu suchen und nicht, wie geplant, nach Catania zu fahren. Die Mafia, so der Tankwart, sei noch sehr aktiv in den reicheren Städten wie Catania. Das zwinge viele Leute zur Kleinkriminalität. Raubüberfälle hätten wir zwar nicht zu befürchten, aber es könne doch das eine oder andere Teil an unseren schönen neuen Motorrädern verloren gehen. Gesagt getan. Wir fragten uns in Mascali durch bis zu einem noch kleineren Vorort namens Fondachello. Dort fanden wir glücklicherweise einen geöffneten Campingplatz. Zumindest dachten wir, er sei geöffnet. Der Platzwart machte keine Anstalten, irgendwelche Personalien von uns aufzunehmen, sondern deutete mit einer linkischen Handbewegung auf die Rückseite des Rezeptionsgebäudes, wo sich ein ehemaliger Orangenhain samt üppiger saftiggrüner Wiese als Zeltplatz erstreckte. Genau ein Zelt war am anderen Ende des Platzes aufgebaut, und weil man von dort den besten Blick auf den Ätna hatte, stellten wir uns daneben.
Auf dem Parkplatz vor dem Rezeptionsgebäude war eine Ansammlung von Menschen damit beschäftigt, auf einer Bühne eine Musik-Anlage aufzubauen, als wir eintrafen. Während wir die Zelte aufschlugen, folgte der recht laute Soundcheck. Später, beim Einkaufen im Kiosk des Zeltplatzes, wurden wir darüber aufgeklärt, daß an diesem Abend eine Feier stattfände zu der wir auch prompt eingeladen wurden. Wie sich herausstellte, waren wir anscheinend aber die ältesten Anwesenden. Scheinbar feierte die Dorfjugend die Schulferien oder ähnliches. Wir ließen es uns bei rotem Landwein und italienischer Rockmusik gutgehen, bevor wir überglücklich in die Schlafsäcke krochen und uns von der Musik bis spät in die Nacht in den Schlaf rocken ließen.Am nächsten Morgen lernten wir die Zeltnachbarn kennen: Eine Mutter mit ihren beiden Töchtern aus Dresden. Sie kamen auf den Spuren Goethes und wollten eine Bildungsreise machen (Einbildungsreise vielleicht, so eingebildet wie sie sich benahmen. Aber wie sagt der Lateiner? si tacuisses - wenn Du geschwiegen hättest). Meine Abneigung gegen die Damen begründete sich zunächst nur durch meine ebensoherzliche Abneigung gegenüber Goethe, den ich für völlig überschätzt halte. Ich wurde in meinem Gefühl bald bestärkt. Aber dazu später.
An diesem Tag fuhren wir schnurstracks den Ätna hinauf, zunächst nach Zafferana, einem kleinen Dorf auf halber Höhe. Dort stellten wir die Motorräder ab und schlenderten ein wenig durch den Ort. Plötzlich fiel uns auf, wie fluchtartig die Leute die Straße verließen und in die Häuser verschwanden. Diesmal taten wir es ihnen gleich und in einem Café lernten wir nicht nur Arancini - DIE kulinarische Spezialität aus Sizilien - kennen, sondern überstanden das tägliche Ätnagewitter mit dem heftigsten Wolkenbruch, den wir je sahen, mit trockener Haut.
Kurz darauf waren wir wieder unterwegs. Auf etwa 2000m Höhe ist der Touristenrummel voll im Gange: Unzählige Holzbuden mit dem überflüssigsten Nippes aber auch mit kleinen und feinen Souvenirs. Das Stöbern lohnt sich auf alle Fälle. Ganz im Gegensatz zu den über 70.000 Lire, die die Fahrkarten für die Seilbahn gekostet haben. Oben auf etwa 2500m angekommen war die Stimmung schnell auf dem Gefrierpunkt. Im wahrsten Wortsinne, denn es tobte ein Schneesturm erster Güte. Die geplante Weiterfahrt zum Gipfel in einem der Jeeps wurde von der Bergwacht abgesagt. Angeblich wegen des schlechten Wetters. Als wir dann sehr nachdrücklich gebeten wurden, sofort und ohne Verzögerung den Heimweg anzutreten wurden wir stutzig. Und zwar zu Recht. Bereits auf den Serpentinen ins Tal sahen wir gewaltige Ascheeruptionen, die die Eile, mit der die Bergwacht die Jeeps ins Tal brachte erklärte.
Trotzdem waren wir noch immer sehr enttäuscht, weil wir gerne auch richtige Lavaeruptionen gesehen hätten, extra für diesen Zweck fährt die Bergwacht schließlich mit den Touristen bis kurz unter den Gipfel. Nur eben an diesem Tag nicht. Dennoch wollten wir etwas glühen sehen, also machten wir uns auf die Suche nach einer Metzgerei. Pferdefleisch hätten wir an jeder Ecke kaufen können. Kaum ein Stadtviertel ohne Pferdemetzger. Bis wir an etwas Schweinefleisch und ein paar Salsicce kamen, mußten wir den halben Ort absuchen. Bei dem obligatorischen Rotwein und frisch gegrilltem waren wir aber bald wieder mit unserem Schicksal versöhnt. Die Zeltnachbarn meckerten nochmal kurz wegen des Grillgeruchs, aber das störte uns nicht weiter, da wir herausgefunden hatten, daß die Damen am nächsten Tag die Heimreise antreten wollten. Während wir so in die Grillglut schauten merkten wir garnicht, wie schnell es auf Sizilien dunkel wird. Bereits um halb Neun ist stockfinstere Nacht. Der Platzwart kam noch einmal um uns nach den Erlebnissen des Tages zu befragen. In meinem gebrochenen Italienisch erklärte ich ihm unsere Enttäuschung über den Schneesturm und die verpaßte Jeepfahrt. Er erzählte uns, daß vor einigen Wochen der größte Ausbruch seit Jahren stattgefunden habe. Mit Lavaeruptionen, die mehrere hundert Meter in die Höhe schossen.
Inzwischen war es beinahe Mitternacht geworden und zu guter Letzt auch noch die Batterien der Taschenlampe leer, so daß wir die Weinflasche nur noch ertasten konnten. Im Grill sah man nur noch ein winziges Pünktchen glimmen. Erstaunlicherweise sah man das gleiche winzige rote Pünktchen auch, wenn man in Richtung des Ätna blickte. Im Gegensatz zur Grillglut wurde das Pünktchen am Ätna immer größer und bald standen wir mit Kamera und Foto bewaffnet bereit. Es dauerte etwa eine Stunde, bis der Ätna glühende Fontänen spie, die die Eruptionen der letzten Jahre in den Schatten stellten. Bis einen Kilometer hoch wurden die Lavabrocken geschleudert, einige davon so groß wie ein Kleinwagen. Darüber war sogar Naturfilmer Ernst Waldemar Bauer erstaunt, der, wie wir später per Zufall herausfanden, genau diesen Ausbruch filmte und im Fernsehen zeigte. Die Zeltnachbarn, von dem Donner und dem Beben der Erde geweckt, kamen kurz aus dem Zelt, machten sich eine Minute lang Sorgen, ob das Gedonnere so rechtzeitig aufhören würde, daß der Rest der Nacht vor der Heimreise ausreichend Schlaf gefunden würde und gingen dann wieder zu Bett, um den heftigsten Ätnaausbruch seit acht Jahren zu verschlafen.
Spätestens jetzt war mir klar, daß meine Abneigung begründet war. Auch der Platzwart hatte kein Verständnis für so viel Ignoranz und so wenig Begeisterung für die Natur, wie er sagte. Ach ja, er sagte auch noch: Domani niente neve - morgen nix Schnee. Scheinbar hatte mein schlechtes Italienisch auf ihn abgefärbt. Am nächsten Morgen nahmen wir die Nordseite des Vulkans in Angriff. Wir wollten die frischen Lavaströme finden, aber alle potentiellen Zufahrtswege waren gesperrt. Anscheinend funktioniert die Verkehrspolizei hier besser als in Messina. Aber auch so wurden wir reichlich belohnt, denn die Landschaft ist atemberaubend. Eben noch fährt man durch ein Waldstück, das auch im Pfälzer Wald liegen könnte, im nächsten Moment durchkreuzt man bereits eine Mondlandschaft. Krater gibt es hier jedenfalls zur Genüge. Aber auch Lavaströme finden sich an jeder Ecke. Nur eben keine glühenden, sondern die Zeugen der vergangenen Ausbrüche. Beim letzten großen Ausbruch des Ätna wurde 1992 auch Zafferana von einem gigantischen Lavastrom bedroht.
Weder Regenwetter noch die italienische Armee mit Baggern und Betonblöcken konnten ihn aufhalten. Erst als aus dem Nachbardorf eine Heiligenstatue herbeigetragen wurde stoppten die sengenden Steinmassen und verschonten den Ort vor der Zerstörung. Seither findet jedes Jahr eine Prozession statt, zu Ehren des jeweiligen goldenen Kalbes, dem man die Rettung zuschreibt. Die Prozessionsraupen, die man hier in großen Populationen antreffen kann, sind mir da schon sympathischer. Auch vulkanischen Ursprungs aber ungleich kälter ist die Alcantara-Schlucht. Sie liegt auf der Nordseite des Ätna und besteht aus tausenden sechseckigen Basalt-Rhomben. Es gibt einen großen Parkplatz, von dem aus man direkt zum Restaurant und dem Souvenirladen sowie zum Kassenhäuschen kommt, an dem man für einen ganzen Batzen Geld in die Schlucht hinabsteigen kann. Hier bekommt man auch Gummihosen, damit man die Schlucht entlanggehen kann.
Mann kann aber auch 200m die Landstraße weitergehen und dann ganz offiziell eine Treppe zur Schlucht hinuntergehen und so kostenlos in den Genuß eines Naturschauspiels kommen. Der Schuhe und Strümpfe entledigt, machte uns das Wasser nichts aus. Die Steine am Bett des Baches allerdings waren unangenehm spitz. Etwas Schadenfreude konnten wird uns nicht verkneifen, als eine junge französische Touristin in ihrer Gummilatzhose von der Strömung umgeworfen wurde und sich dann mit mehr Wasser in der Hose als drum herum zum Ausgang schleppen mußte. Genau zwischen dem Parkplatz und der gebührenfreien Treppe entdeckten wird auf der gegenüberliegenden Seite einen kleinen Laden, wo man wirklich leckere Pasten aus getrockneten Tomaten oder Oliven oder Kapern und vieles mehr kaufen kann. Die Produzentin Margarete Frese erklärte uns genau, wie jedes einzelne Produkt von ihr und der Familie selbst hergestellt wird und zeigte uns Fotos, die die entsprechenden Arbeitsschritte zeigten. Es war eine deutsche Emigrantin, die hier ihren Mann kennengelernt und hierzubleiben beschlossen hatte. Ihre Kontakte nach Deutschland würde sie nutzen, um die Leckereien an deutsche Gourmet-Restauraunts zu exportieren, was sie geradeso über Wasser hielte, denn von der Laufkundschaft könnte sie nicht leben. Dafür konnte sie alles über die Wildkräuter erzählen, die hier wachsen. Eine richtige Kräuterhexe, also. Und das war als Kompliment gedacht.
An einem anderen Tag wollten wir die südlichste Spitze Italiens erreichen, das Capo Passero. Dort steht wohl einer der wichtigsten Leuchttürme des Mittelmeeres, was auch die deutliche Präsenz des Militärs hier erklärt.
Auf dem Rückweg besichtigten wir noch Syrakus, die antike Stadt, in der einst der brüchtigte Tyrann Dionys herrschte. Auch Schiller verewigte ihn in seinem Gedicht die Bürgschaft. Das Ohr des Dionys, eine Höhle mit besonderer Akustik, die im Inneren geflüsterte Worte draußen deutlich hörbar macht, haben wir leider nicht gefunden. Allerdings waren wir in Eile, denn wir wollten vor Einbruch der Dunkelheit wieder auf dem Zeltplatz sein.
Am Tag zuvor hatte nämlich der Platzwart mir den Schlüssel für den Platz überreicht. Der Platz sei nämlich eigentlich noch gar nicht geöffnet, nur für eine Feier habe man ein paar Verwandte und Freunde übernachten lassen. Er wolle jetzt nach Hause gehen und käme am Wochenende wieder. Ich solle nicht vergessen, abzuschließen bevor es dunkel ist. Und es wird früh dunkel auf Sizilien.