Offener Brief an FOCUS-Online – Betreff: Verbreitung von Falschinformationen

Ich habe den folgenen offenen Brief mitgezeichnet, der hier veröffentlicht wurde.


Sehr geehrte Redaktion von FOCUS-Online,

am 27. August 2021 haben Sie einen Artikel mit dem Titel „Schwierige Gesetzeslage: Sogar ein Zungenkuss kann eine Vergewaltigung sein“ veröffentlicht, der Name des Autors ist jedoch auf Ihrer Website leider nicht zu finden. Sie lassen in Ihrem Artikel zwei Männer zu Wort kommen, Rechtsanwalt Otto Binder und Rechtsanwalt Alexander Stevens, die beide absolut falsche Informationen als Fakten darstellen. Zitat: „Kollege Stevens geht davon aus, dass schätzungsweise die Hälfte der Beschuldigten zu Unrecht beschuldigt werden. „Einschränkend muss man sagen, dass ein Großteil der Falschaussagen nicht bewusst erfolgen, sondern durch Suggestion oder aufgrund psychischer Krankheiten.“ Abgesehen davon, dass diese Aussage Menschen mit psychischen Erkrankungen aufs Schärfste diskriminiert und stigmatisiert (man nennt das Ableismus), ist die Behauptung, dass ungefähr die Hälfte aller Betroffenen von sexualisierter Gewalt nicht die Wahrheit sagt, schlichtweg falsch (auf seiner eigenen Website wird hingegen von 25-75 Prozent gesprochen). Stevens Behauptung beruht auf einer „Studie“ der Bayerischen Polizei aus dem Jahr 2005, bei der 70 Polizeibeamt*innen nach ihrer persönlichen Meinung zu Falschbeschuldigungen befragt wurden.

Es muss wohl nicht erwähnt werden, dass es die persönliche Meinung von 70 Personen (die im Übrigen zwischen drei Prozent und 80 Prozent schwankt) nicht rechtfertigt, dies als Tatsachen zu verkaufen. Auch in der Studie selbst steht im letzten Kapitel: „Ob diese Wahrnehmung der Beamten der Realität entspricht oder nicht, kann nicht beurteilt werden, da es an Untersuchungen und empirisch gesichertem Wissen fehlt. (Das ist nichts Neues: Nur ganz ausnahmsweise konnten die Zweifel von Polizei und Justiz an der Glaubwürdigkeit der Opfer, die sich wie ein roter Faden durch den Umgang der Strafverfolgungsinstanzen mit diesen Opfern – und der Kritik an ihm – ziehen, durch empirische Befunde bestätigt oder widerlegt werden).[1]Studie „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern“ Erich Elsner, Wiebke Steffen. München 2005. Kapitel 7: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse und kriminologische Wertung, S. 269 Es wäre schön gewesen, wenn der Autor des Artikels vor der Verbreitung irgendwelcher Falschinformationen zuerst überprüft und recherchiert hätte, wie die Faktenlage tatsächlich ist. Sollte Ihr Autor und Ihre Redaktion Interesse daran haben, sich zu dieser Thematik zu informieren, finden Sie einen ausführlichen Beitrag zum Thema Falschbeschuldigungen auf der Website des Vereins Kein Opfer e.V.: https://www.ko-ev.de/themen/sexualisierte-gewalt/

Weiter behauptet Binder über die #metoo-Bewegung Folgendes: „Aus der Kultur des Schweigens ist eine Kultur der Offenheit geworden. Die Gefahr liegt auf der Hand, dass aus dem Reden eine Modebewegung wird. Denn Opfer erfahren eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz, sie werden ernst genommen und erhalten viel Zuwendung, die sie sonst vielleicht nicht bekommen.“ Diese Behauptung ist nicht nur absolut realitätsfern, sie verhöhnt Betroffene von sexualisier Gewalt nahezu, die konstant mit Victim-Blaming auf Ebene der Justiz (wie auch oben in dem Zitat aus der Studie bestätigt wird), bei Polizei, von Seiten der Gesellschaft und teilweise sogar in ihrem eigenen sozialen Umfeld konfrontiert werden. Viele Betroffene erfahren zusätzlich zu der schrecklichen Gewalt, die ihnen angetan wurde, nach der Tat noch sekundäre Traumatisierungen durch Polizei und Justiz.

Wir hoffen, Ihnen ist bewusst, welch fatale Folgen Ihre Berichterstattung für Betroffene von sexualisierter Gewalt hat. Ihr absolut verantwortungsloser Umgang mit einem Thema, dass laut EU-Studie von 2014 jede dritte Frau (hinzukommen weitere Opfer wie Kinder, Männer und Personen aus marginalisierten Gruppen, die überproportional davon betroffen sind) in unserem Land betrifft, ist nicht nur schockierend, sondern auch grob fahrlässig. Bereits jetzt erstatten etwa 85 Prozent der Betroffen keine Anzeige (Quelle Professor Pfeiffer, Untersuchung des KFN), da eben genau das Gegenteil des von Binder beschriebene Szenarios der Fall ist und Betroffene von sexualisierter Gewalt zurecht Angst haben, dass ihnen nicht geglaubt wird. Ihr Artikel leistet einen Beitrag dazu, dass in Zukunft noch mehr Betroffene davon zurückschrecken, Anzeige zu erstatten.

Wir fordern von Ihnen eine Richtigstellung dieser Falschinformationen und für die Zukunft einen sensibleren Umgang mit einem Thema, das so viele Menschen in unserem Land betrifft und mit größtem Leid, psychischen Folgeschäden und Traumata verbunden ist.

Stellvertretend für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt

Nina Fuchs, Vorstandsvorsitzende Kein Opfer e.V.


 

Fußnoten

Fußnoten
1 Studie „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in Bayern“ Erich Elsner, Wiebke Steffen. München 2005. Kapitel 7: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse und kriminologische Wertung, S. 269

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