Schulden wir der Gesellschaft, „normal“ zu sein?

Diesen widerwärtigen Beitrag fand ich auf Facebook[1]Quelle:

Kleine Provokation zum Mittwoch (grad gelesen):

Ständig hören wir dieses Gejammer von jungen Leute und Teenagern: «Was sollen wir machen, wo sollen wir hingehen?» … Meine Antwort ist: «Geh nach Hause, mähe den Rasen, putz ein paar Fenster, lerne kochen, bau ein Floss, such dir einen Job, besuch ein paar Leute im Altenheim, lerne für die Schule, und wenn du das gemacht hast, dann lies ein Buch!

Deine Stadt schuldet dir keine Freizeitanlagen und deine Eltern schulden dir keine Vergnü-gungen und deine Regierung schuldet dir keinen Unterhalt. Du schuldest der Welt etwas: deine Zeit, deine Kraft und dein Talent, damit keiner mehr in den Krieg ziehen, und in Armut, Krankheit oder Einsamkeit leben muss.

Mit anderen Worten: Werde erwachsen, höre auf zu heulen, komm aus deiner Traumwelt heraus und entwickle ein Rückgrat. Fange an Verantwortung zu übernehmen. Du bist wichtig und du wirst gebraucht. Du hast keine Zeit mehr rum zu sitzen und darauf zu warten, dass irgendjemand irgendwann irgendetwas tut. Fang du heute an, etwas zu tun! Denn irgend-wann ist heute und irgendjemand bist du!»

(Diese Worte stammen angeblich von einem Richter, der ständig junge Leute in seinem Gerichtssaal sitzen hat.)

Zunächst hielt ich einen kurzen “Bullshit”-Kommentar für ausreichend. Auf vielfachen Wunsch einer Einzelperson befasse ich mich nun doch ausführlicher mit dem Thema:

1. Nein niemand kann und darf zu irgendeiner Verantwortung gezwungen werden. Der Mensch, der vor seiner Zeugung gefragt wurde, ob er in dieser Welt mit all ihren (meist schwachsinnigen) Regeln leben möchte und deshalb bereit ist, diese Regeln zu akzeptieren und befolgen, selbst der muß diese Regeln nicht akzeptieren und befolgen, denn man muß nicht sein ganzes Leben lang ein und dieselbe Meinung haben. Man darf nämlich sein ganzes Leben lang sein Gehirn und seinen Verstand gebrauchen und wenn man dann nach mehr oder minder reiflicher Überlegung zu einem anderen Ergebnis kommt, darf (muß) man seine Meinung auch entsprechend ändern.

Verantwortung ist immer freiwillig. Natürlich ist es schön und ehrenvoll, Verantwortung für andere zu übernehmen. Aber gerade die Freiwilligkeit macht es wertvoll!

2. Der Text suggeriert, daß man sich das Recht, in dieser Gesellschaft zu leben, erst verdienen müsste. Das ist genau das Wahlprogramm von Schwarzgelb. Wer nichts “leistet” soll auch nix haben! Wäre Jesus im heutigen Deutschland geboren worden, und nicht vor 2000 Jahren, wäre er sang- und klanglos untergegangen und keine 10 Leute hätten Notiz von ihm genommen, dem faulen Schmarotzer. Nix schaffen, nix leisten, aber den Leuten Vorträge halten wollen!!!!111einself

Warum Fenster putzen, Rasen mähen, wenn man gerne einen wilden Rasen hat oder nicht aus dem Fenster kucken will? Damit die Mitmenschen nicht merken, daß man sich erdreistet, ein Individuum zu sein? Damit man nicht aus der Norm ausbricht? Das Problem ist doch schon, daß eine Bevölkerungsgruppe eine einzige bestimmte Lebensweise bzw. ein einziges isoliertes Lebensmodell als Standard oder zur Norm bestimmt hat, und nun sollen sich alle anderen daran halten? Warum? Mir gefällt mein Lebensmodell und ich habe fundierte Gründe, es für praktikabler, sozialer und christlicher zu halten als das in unserer Gesellschaft gängige.

3. Selbstverständlich schuldet mir die Stadt, der Staat, die Regierung sogar sehr viel. Wenn nicht, um mir etwas zu geben, wozu ist Staat dann überhaupt da? Es gibt nur eine ethisch-moralische Rechtfertigung für das Unterdrückungsinstrument “Staat”, außer den Staatsangehörigen Vorteile zu verschaffen: Für Gerechtigkeit zu sorgen, indem verhindert wird, daß 99% Arme dem einen Prozent Reichen ihren Reichtum verschaffen müssen.

Dieses Schlechtgewissenmachen von wegen “Du schuldest der Welt etwas” macht Kriege, Ausbeutung und (Lohn-)Sklaverei überhaupt erst möglich.

Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Da sagt der Arme sagte bleich, "Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich!”[2]B. Brecht

Wer sind wir, daß wir uns anmaßen, den Wert von Menschen an einer willkürlich festgelegten Definition ihrer Arbeitsleistung zu messen. Nach diesem Kriterium müßte man die Alten, die man ja laut dem Text besuchen soll in ihrem Wegsperr-aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Ghetto, sofort einschläfern! Die leisten nix mehr. Weg damit. Schmarotzer.

Was? Die hätten früher schon genug geleistet für die Gesellschaft? Ja aber woher wißt Ihr denn alle so gut, daß der Träumer von heute nicht in 20 Jahren die gesamte Menschheit retten und vorm Untergang bewahren wird? Kristallkugel? Hellseher? Prophetische Begabung? Und Weltretter wäre ja wohl genug geleistet, oder?

All die Faulenzer und Schmarotzer, auf die der braune Richter da so schimpft, wird er sich später bei ihnen entschuldigen, wenn sie mal mehr geleistet haben werden als er? Werdet Ihr alle das tun?

Ach, und überhaupt? Wer legt denn fest, welche Art von Leistung nützlich ist und welche nicht? Pfarrer leisten eigentlich überhaupt nichts für die Gesellschaft, und doch schimpft sie keiner Schmarotzer, Heuler oder Träumer. Weil: Philosophieren, über Gott und die Welt nachdenken, zählt ja nicht als Leistung, gell? Was nicht (irgendwen) monetär reich macht, ist wertlos, nicht wahr? Geistiger, seelischer Reichtum, psychische Gesundheit? Geschenkt!

Nach dem dritten Reich waren es hauptsächlich Nazi-Richter, die in deutschen Gerichten weiterhin Urteile sprachen. Wie sagte die rheinische Runzelrübe Adenauer mal so schwachsinnig? “Wenn man kein frisches Wasser hat, schüttet man das faulige nicht weg.” Ja, diesem Rindvieh haben wir unsere heutige braune Justiz zu verdanken. Und der Nazizeit entstammt auch unsere immer noch vorhandene Denkweise, wir müssten alle einheitlich und normiert sein, denken, aussehen, arbeiten, …

Der Text auf Facebook ruft mir ein weiteres Zitat[3]Max Liebermann ins Gedächtnis:

“Ick kann jar nich soville fressen, wie ick kotzen möchte.”

Fußnoten

3 Gedanken zu “Schulden wir der Gesellschaft, „normal“ zu sein?

  1. Ein Künstler

    > Du bist wichtig und du wirst gebraucht. […] Fang du heute an, etwas zu tun!

    Würde ja gerne. Aber bevor ich das Volk an dem teilhaben lassen darf, womit ich es wohl am besten innerhalb meiner Fähigkeiten bereichern könnte, muss ich erst Lebenszeit (auch als Wartezeit seitens der Empfänger) damit vertrödeln, meine Lebensberechtigung mittels meiner drittbesten Fähigkeit zu erwerbsarbeiten. Kenne fernpersönlich sogar studierte Philosophen, von denen dieses Volk sich wünscht, ihm als Taxifahrer(!) o.ä. zu dienen, so sehr wird Denkfähigkeit hierzulande wertgeschätzt. Mit sinkender Bildung schwindet eben auch das Verständnis für den Wert der Bildung. Da kann ich den Wunsch des Volkes nur so verstehen, ich (vermutlich als "intellektuell" verschmähter) Spinner möge es doch bitte nicht länger als nötig belästigen, ergo mich nur noch so lange durcherwerben, bis ich dann endlich in Lande mit höherem mittleren (← Median) Bildungsgrad auswandere.

    Der erste zitierte Satz mag wahr sein, kann aber wohl kaum der Volksmeinung entsprechen, solange das Volk sogar Anstrengung unternimmt, mich davon abzuhalten, den Beitrag zu leisten, zu dem ich besonders befähigt wäre. Dann braucht es vielleicht ein weiteres beliebiges Stück Menschenmaterial (human resource), aber nicht so speziell mich, wie es die Formulierung vortäuscht.

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  2. Ein Künstler

    Webmaster, (egal ob Kai oder der andere,) mein Text ist einfach weg. Wenn er erst moderiert werden muss, zeig ihn derweil wenigstens mir wieder an. Ich bin zwar schlechtes Web gewohnt genug, um natürlich eine Kopie gespeichert zu haben, aber du bist Pirat, du kannst das besser.

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      Kai

      Zu meiner Ehrenrettung (oder der der Piraten) möchte ich darauf hinweisen, daß der Spamfilter getan hat, was von Ihm erwartet wird: Er filtert Kommentare, deren Absender offensichtlich ungültige E-Mail-Adressen verwenden, heraus. Der Kommentar war also im Spamordner gelandet und ich bitte um Nachsicht, daß ich diesen nicht regelmäßig auf Irrläufer kontrolliere. 🙂

      Antwort

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